Ganzheitliche Produktionssysteme und Erfahrung

Montage sieht sich einem verstärkten Flexibilisierungsdruck gegenüber. Märkte und Kundenwünsche, Produkte und Technologien – immer spezifischere Bedürfnisse müssen immer schneller bedient werden. Um diesen Flexibilisierungsansprüchen gerecht zu werden, unterliegt Montage einem ständigen Wandel – mit wechselnden Strategien: Auf die Vollautomatisierung (Stichwort: Over-Engineering) in den 90er Jahren folgt der Trend zur partiellen Rücknahme von Automatisierung. Die Leitlinie der flexiblen Spezialisierung in den 80er Jahren wird abgelöst vom Paradigma der flexiblen Standardisierung heute.

An der Idee der flexiblen Standardisierung orientiert sich die aktuelle Umsetzung von Ganzheitlichen Produktionssystemen (GPS). Das Ziel der verstärkten Konzentration auf die Wertschöpfung wird dabei mit Hilfe einer systematischen methodenbasierten Rationalisierung verfolgt. Es geht um die Senkung der Produktionskosten durch die Vermeidung von Verschwendung in allen produktiven Prozessen inklusive der Logistik. GPS verstehen sich als methodische Regelwerke. In Verbindung mit dem Controlling tragen sie über eine allgegenwärtige Visualisierung die Kennzahlenlogik an jeden Arbeitsplatz.

Mit GPS wachsen auch die Anforderungen an die Beschäftigten in der Montage: Ihr Wissen und Ihre Erfahrung sind es, die eine Standardisierung und eine kontinuierliche Verbesserung erst ermöglichen. Im Zuge von GPS wird das Erfahrungswissen der Beschäftigten deshalb verstärkt eingefordert. Leider allzu oft mit dem Ziel, es überflüssig zu machen und durch Standardisierung zu ersetzen; leider zu selten mit dem Ziel, es freizusetzen und zu fördern. Wenn GPS so verstanden werden, wirken sie wie eine qualitativ veränderte Neuauflage des Taylorismus – wie ein Taylorismus 2.0. Es geht dann zwar nicht mehr darum, das Erfahrungswissen durch Rationalisierung zu ersetzen, wie im Taylorismus alter Prägung, aber es geht darum, das Erfahrungswissen für weitere (Selbst-)Rationalisierung auszunutzen. Dann setzen nicht die Montagearbeiter Kaizen in Gang, sondern dessen Ziele werden top-down vom Management vorgegeben. Dann wird teilautonome Gruppenarbeit ersetzt durch eine geführte Gruppenarbeit, deren Aufgabe sich konzentriert auf die Steigerung der Arbeitseffizienz durch Standardisierung.

Standardisierung und Flexibilität sind ohne Frage Anforderungen, denen sich Montage heute stellen muss. Eine Standardisierung aber, die Flexibilität und Innovationsfähigkeit sichert, kann nicht am grünen Tisch entwickelt werden. Sie wird nur praktikabel und lebendig durch die Erfahrung der Beschäftigten. Wo GPS sich daher dieser Erfahrung nur bedienen wollen, wird Standardisierung zum bürokratischen Monster und selbst zu einer neuen Quelle der Verschwendung. Dann wird Erfahrung als wertvollste Ressource für eine zukünftige Optimierung nicht genutzt, sondern vernutzt – eine Form von Verschwendung, die sich in der Wissensgesellschaft kein Unternehmen leisten kann. Gerade weil eine flexible Standardisierung auf Erfahrung angewiesen ist, darf sie ihre wichtigste Ressource nicht zu ihrem Objekt degradieren.